Wien 1910 – Bettgeher und Mieterrevolten

Die Wohnungsnot in Wien am Beginn des 20. Jahrhunderts ist in ihrem drastischen Ausmaß heute kaum nachzuempfinden. Überteuerte winzige Mietwohnungen, die sich Mieter aus Kostengründen mit Bettgehern teilen mussten, prägten das Leben der Unterschicht. Als Bettgeher bezeichnete man Menschen, denen entgeltlich stunden- und schichtweise eine Schlafstelle in einer gemieteten Wohnung angeboten wurden. Dass mehrere Personen zugleich in einem Bett schliefen, war keine Seltenheit. 30 Betten, oder auch mehr, wurden in manche Mietwohnungen gezwängt.

Selbst im Vergleich zu den sonst auch nicht rosigen Zuständen in anderen Teilen Europas, war Wien ein besonderer Fall der Massenverelendung. So ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass sich der Begriff „Wiener Krankheit“ zu einem international gebräuchlichen Wort für die Tuberkulose entwickelte.

Ab dem Jahr 1910 häuften sich in den k.u.k Hauptstädten Budapest und Wien Mieterstreiks und Mieterrevolten. Diese Zustände erzwangen 1917 die ersten kaiserlichen Mieterschutzverordnungen und 1922 ein Mietengesetz, das diesmal im positiven Sinne beispielgebend für die Sozialgesetzgebung Europas wurde.

Zur Illustration des damaligen Elends erfolgt ein Auszug einer Reportage aus der Wiener Wochenzeitung „Montags-Post“ vom 13.11.1911. Zwei Tage zuvor hatte sich vor einem Zinshaus in der Herthergasse 24 im 12. Bezirk ein Mieteraufstand ereignet, bei dem sich rund 2.000 Menschen gegen Kündigungen eines Hauseigentümers versammelt hatten. Als die Wut einer Steine werfenden Menge zu eskalieren drohte, wurde der Protest von der Polizei gewaltsam aufgelöst.

Zeitungsauschnitt

Der Artikel der „Montags-Post“ zitiert Erfahrungsberichte von Kontrolloren der Bezirkskrankenkassen über die Wohnsituation besuchter Kassemitglieder. Sein Titel: „Wiener Wohnungselend“:

„Wiener Wohnungselend“

Wir alle, die wir einen großen Teil unseres Einkommens aufwenden müssen, um unsere meist unzulänglichen und ungesunden Wohnungen zu bezahlen, kennen das Wohnungselend, das durch die allgemeine Wohnungsnot gezeitigt wurde, aus eigener Anschauung zur Genüge. Nicht jeder mag aber das grässliche Elend zu ermessen, durch welche die untersten Schichten der großstädtischen Bevölkerung betroffen werden und es dürfte daher allgemeines Interesse bieten, wenn wir aus dem Berichte der Wiener Bezirkskrankenkassa für das Jahr 1910 einige authentische Mitteilungen bringen. Die jammervollen Zustände, welcher dieser Bericht aufdeckt, schreien nach Abhilfe und die berufenen Faktoren werden nicht lange mehr dieser erbärmlichen Not der proletarischen Bevölkerung untätig zusehen können.

Einige Beispiele aus dem erwähnten Berichte sollen weiter sprechen:

Im Hause 2. Bezirk Handelskai 206, befindet sich im Hoftrakte eine Wohnung, bestehend Zimmer, Kabinett, Küche und Vorzimmer. N dieser Wohnung sind nebst Vermieter und seiner Familie noch 8-10 Bettgeher beiderlei Geschlechtes anwesend. Die Wohnung starrt vor Schmutz und ist erfüllt vom Gestank aus der Küche, so dass man sich nicht erklären kann was da gekocht wird. Der Mietzins beträgt 48 Kronen pro Monat und 576 Kronen pro Jahr.

Im Hause 2. Bezirk, Kleine Schiffgasse 32 sind alle Wohnungen in einem desolaten Zustande, insbesonders aber die Wohnungen Nr 11 und 12 sprechen geradezu Hohn allen sanitären Anforderungen. Diese beiden Wohnungen sind miteinander durch offene Türen verbunden und gehören einem Mieter. Sie bestehen zusammen aus fünf Zimmern und einer Küche. Alle Räume dienen als Schlafräume. Es befinden sich darinnen 38 Betten, diese werden aber von mehr als der doppelten Anzahl Personen benützt, da nicht nur zwei Personen ein Bett teilen, sondern auch noch Kinder bei sich haben. Der freie Raum zwischen den Betten wird überdies noch von auf dem Boden liegenden Schläfern benützt. Die Fenster sind mit allerlei Gebrauchsgegenständen derart verlegt, dass ein Öffnen der Fenster nicht möglich ist. Daher ist in der überaus unreinen Wohnung eine entsetzliche Atmosphäre. Über einen kleinen schmutzigen Gang kommt man zu einem offenen Abort, der sich in einem nicht zu beschreibenden Zustand befindet. Der Mietzins beider Wohnungen beträgt zusammen monatlich K 122,60 K 1471 ,92 jährlich.

Im Hause 2. Bezirk Floßgasse 18, kam unser Kontrollorgan in eine Wohnung, bestehend aus Zimmer, Kabinett und Küche und einem kleinem Vorzimmer. Im Zimmer das von normaler Größe ist, schlafen allnächtlich sieben Personen, bei schlechtem Wetter auch mehr und zwar in einem Bette ein Ehepaar, in einem zweiten Bette zwei junge Mädchen, sonst Männer auf Strohsäcken. Im Kabinett schlafen drei, bei schlechtem Wetter fünf Personen. Die Wohnungsinhaberin schläft in der Küche, in welcher gekocht und gewaschen wird und die auch noch als Aufbewahrungsort für allerlei schmutziges altes Zeug dient. Die Wohnung ist im höchsten Grade unrein; daneben befindet sich ein offener, schmutziger Abort. Der Mietzins beträgt 50 Kronen monatlich, 600 Kronen pro Jahr.

Im 2. Bezirk Stromgasse 240 wurde eine Wohnung gefunden, in welche man über vier Holzstufen hinabsteigen muß. Zuerst gelangt man in einen fensterlosen Vorraum, in welchem Kaninchen, Hühner, eine Ziege, Turteltauben, Gras und Feuerungsvorräte untergebracht sind.

Hat man sich nicht von dem penetranten Gestank nicht zurückschrecken lassen, kommt man über zwei weitere Stufen in den eigentlichen Wohnraum der aus einem mittelgroßen Zimmer und einem Kabinett besteht; darinnen wohnen zwei Familien die Bettgeher halten. Die Wände sind nass, die Wohnung nie gelüftet. Zins 21 Kronen monatlich, 252 Kronen jährlich.

Im 3. Bezirk, Schimmelgasse 14 bewohnt ein Kassenmitglied eine Wohnung, bestehend aus einem Kabinett, welches zugleich als Küche und Schlafstätte von Mann, Frau und einem zwölfjährigen Kinde verwendet werden muß. Auf den Gang hinaus mündet ein kleines Fenster, die einzige Öffnung durch welche Licht und Luft kommen können. Die Wohnung muß daher auch bei hellem Tag beleuchtet werden. Der Mann lag sieben Wochen krank zu Bet. Zins 10 Kronen pro Monat. Derartige Wohnungen finden sich äußerst häufig.

Im 5. Bezirk, Schönbrunnerstraße 13, wurde eine Wohnung angetroffen, bestehend aus zwei Zimmern, Kabinett und Vorzimmer, in welchen Räumen neben der Wohnungsinhaberin noch etliche in Untermietewohnen. Dann sind noch drei Hunde in der Wohnung. Im sogenannten Vorzimmer wird gekocht und gewaschen, hier befindet sich auch der Hundestall. Jedes Plätzchen dieses Raumes ist mit allerhand aufgelesenem Zeuge ausgefüllt, Schmutz und ekelerregender Gestank erfüllt die Wohnung für die ein vierteljährlicher Zins von 150 Kronen bezahlt wird.

Im 5. Bezirk, Nikolsdorferstraße 28, ist eine Wohnung, die aus einem feuchten Zimmer einem ebensolchen Kabinett und Küche besteht. Darin wohnen10 Personen, und zwar vier Männer, eine Frau und fünf Kinder. Angrenzend an diese Wohnung befindet sich eine Waschküche, Stallungen, sowie eine Senkgrube. Die Wohnungsfenster gehen in eine offene Wagenremise. Ein sanitätswidriger Kanal durchzieht den Hof und die Remise, die ihm entströmenden mephistischen Dünste dringen in die Wohnungen ein. Monatszins 25 Kronen. Ähnliche Verhältnisse finden sich noch in fünfzehn Häusern dieser Gasse vor, in denen Massenquartiere, Stallungen und Senkgruben sind.

Im 6. Bezirk, Kaunitzgasse 15, bewohnt ein Kassemitglied mit Frau und einem Bettgeher eine Wohnung, bestehend aus Kabinett und Küche im Souterrain. Die Küche besitzt als einzige Öffnung die Eingangstür, und ist so wie das Kabinett, 1,5 Meter breit, 2,5 Meter hoch und 3 Meter lang. Das Kabinett hat eine äußerst kleine Fensteröffnung; beide Räume sind sehr feucht, besitzen keinen Fußboden, sind vernachlässigt und höchst sanitätswidrig. Der Mietzins beträgt 18 Kronen monatlich, 216 Kronen jährlich.

Im 7. Bezirk, Neustiftgasse 12, wohnt ein Kassemitglied als Bettgeher bei einem Ehepaar in einer aus Zimmer und Küche bestehenden und im ebenerdigen Hintertrakte gelegene Wohnung. Die Küche, in welcher der Bettgeher die Schafstelle hat, besitzt nur eine Öffnung und ist mit Ziegeln gepflastert; in derselben führt eine Holzstiege zum dachboden. Im zirka 3 Meter langen Zimmer, das nur zwei kleine Fenster hat, schlafen der Wohnungsinhaber mit Frau und vier Bettgeher. Die Wohnung ist äußerst feucht, mit Modergeruch erfüllt; an der äußeren Querseite des Zimmers befinden sich drei Aborte. Die eklige Ausdünstung derselben dringt durch die Wand in die Wohnung., so daß der Aufenthalt in derselben unmöglich ist ohne Schaden an der Gesundheit zu leiden. Der Mietzins beträgt 21 Kronen monatlich, 252 Kronen jährlich.


Der Artikel befasst sich detailliert noch mit zahlreichen weiteren Wohnungen aller anderen Wiener Gemeindebezirke.